Dienstag, 25. Januar 2011

Mittwoch 2. Juni 2010: Gremi, Akhmeta (104 km)

Nach der etwas anstrengenden Nachtfahrt gestern wird es heute wieder ein uneingeschränkt positiver Tag. Es geht damit los, dass ich die Uhr um eine Stunde zurückdrehen darf. Die bukolische Gegend um Kvareli ist die Haupt-Weinanbaugegend Georgiens, an den meisten Häusern ranken sich malerisch die Reben, die zahlreichen Pferdefuhrwerke erinnern mich an Rumänien vor der EU-ropäisierung. In Kvareli kann ich nach 36 km endlich Geld wechseln und was zum Beißen kaufen, nachdem es den ganzen Tag nur Gartenschlauch-Wasser gab. Die Dame am Bankschalter kopiert sich meinen Pass incl. russischem Visum und schaut grimmig. Evtl. fragt sie sich, was ich damit will, ich kann ja eigentlich nicht von Georgien nach Russland reisen, aber darauf hinweisen tut sie mich nicht. Ich genieße den leichten Rückenwind und nehme dafür gerne die Hitze in Kauf, auf dem Rad ist es windstill.
Kvarelien I
Kvarelien II
Fernradler Johann aus München kommt schwerbepackt des Weges. Ich kann sein Fahrrad nicht einmal mit beiden Armen hochheben, er will aber auch bis in den Himalaya fahren. Er ist der einzige Fernradler, der mir überhaupt auf der ganzen Tour begegnet. Ich gebe ihm mit, er soll in Aserbaidschan Richtung Säki unbedingt den Umweg über die südwestliche Strecke nehmen, aber er will nicht hören und schreibt später "das Fahrrad und meine Bandscheiben sind auf der Strecke sicher um einige Jahre gealtert, denn der Belag bestand größtenteils aus grossen Flusskieseln und war alle paar hundert Meter überflutet. Die Ortschaften dazwischen werden trotzdem gelegentlich von überfüllten Schrottbussen angefahren. Die Geländetauglichkeit ist schon beeindruckend, aber ab und zu sitzen die Passagiere trotzdem bei 40 Grad mitten im Flussbett fest".
Begegnung mit Folgen
Fleischtheke
Malerisch thront die Festung Gremi auf ihrer Anhöhe, das können sie, die Georgier, Kirchen spektakulär plazieren. Im winzigen Kvemo steht noch eine überlebensgroße Stalin-Statue mitten im Dorfkern, er war ja Georgier. Der Kaukasus ist, wie ich dann noch öfter feststellen werde, nicht ent-stalinisiert.
Festung Gremi
Stalin bei Akhmeta
In Akhmeta, nach gut 100 Tageskilometern, will ich mich an einem Kiosk an der Abzweigung nach Tianeti noch mit Lebensmitteln eindecken, da die kommenden 30 km recht unbesiedelt aussehen. Mein Plan ist, von Akhmeta über Tianeti direkt nach Zhinvali zu fahren und somit gleich etwa 35 km nördlich von Tiflis/Tbilisi von Osten auf die georgische Heerstraße einzubiegen. Allerdings ist etwas verwirrend, dass alle meine Karten eine normale Straße anzeigen, außer der alten sowietischen Militärkarte, die einen kaum erkennbaren serpentinenartigen kleinen Weg zeigt. Mit "Google.earth" kurz einzoomen geht ja nicht, Georgien ist noch ein weißer Fleck, abgesehen davon, dass es in Georgien gar kein mobiles Internet gibt, nur Handynetz. Zur Sicherheit frage ich im Kiosk nach, ob das nebenan die richtige Abzweigung ist. Es ist etwa 19 h und ich will noch ein Stück fahren, der Tag war dank dem Rückenwind nicht sehr anstrengend.
 
Sofort trete ich eine Lawine los: es sei völlig ausgeschlossen, dass ich hier fahren kann, die Straße sei extrem schlecht, außerdem gäbe es Wölfe und es sei überhaupt sehr gefährlich. Bevor ich widersprechen kann, habe ich schon einen Telefonhörer in der Hand. Am anderen Ende der Leitung meldet sich eine georgische Deutschlehrerin, die mir in ziemlich fehlerfreiem Deutsch erklärt, ich soll mich nicht vom Fleck rühren, sie kommt vorbei, um mich abzuholen, ich bleibe die Nacht bei ihr. Der Gedanke, ob so etwas umgekehrt in Deutschland einem verschwitzten Georgier passieren würde, ist zu absurd, um ernsthaft gedacht zu werden. Ich bin am Grübeln, eigentlich wollte ich schon weiterfahren ... Aber dann schieben mich die Kiosk-Besitzer, eine Mutter mit ihrem Sohn, erstmal ins Hinterzimmer und geben mir ordentlich was zu essen. Alles ist so unglaublich lecker, nicht nur, weil ich sehr hungrig bin. Ständig holen sie mir aus dem Kiosk etwas zu trinken und nehmen natürlich kein Geld. DAS ist sie also, die unglaubliche georgische Gastfreundlichkeit. Der Sohn des Hauses spricht ein paar Brocken Englisch, die Mutter ein paar Brocken Deutsch, irgendwann kommt der Vater hinzu, mit dem ich ein paar Brocken Russisch reden kann. Es ist der Beginn eines wunderbaren Abends.

Mein Fahrrad wird in den Transporter gepackt und wir fahren doch, nach einer kleinen Ortsrundfahrt durch Akhmeta, zur Kioskfamilie nach Hause, so sehe ich zum erstenmal ein georgisches Wohnhaus von innen. Ich bin beeindruckt von der Geräumigkeit, vor allem der obere Stock, der recht unbenutzt aussieht, ist sehr edel eingerichtet mit Klavier, Lüster, Stuckdecke, bestickten Vorhängen. Vier große Kinderzimmer gibt es, von denen derzeit nur eines bewohnt ist. Es kommt die Cousine hinzu, die perfekt Französisch spricht, das hat sie studiert. Endlich haben wir eine gemeinsame Sprache. Aber auch dank "Google.translate" kann ich mich mit dem Sohn tippend am Computer notdürftig unterhalten, Internet mit Modem funktioniert einwandfrei. Ansonsten gibt es in der Küche fließendes Wasser. Im Garten gibt es ein Holz-Klohäuschen ohne Wasser. Die Mutter zeigt mir ihre Deutschbücher und kann noch ein paar Reime auf deutsch aufsagen. Ich bin beeindruckt vom Bildungsniveau hier auf dem Land, wenn man bedenkt, dass die Sprachen incl. Schrift komplett verschieden sind. Nach ihrer Meinung sind Deutsch oder Französisch gar nicht so extrem unterschiedlich vom Russischen, es sei auch "fast die gleiche Schrift". Naja, fast. Ich frage die Cousine, was es mit Thomas Mann auf sich hat, ob das Gerücht stimmt, dass man den hier kennt (Insider erinnern sich an die nette Geschichte von Chris am 18.4.2003). Klar sagt sie, der sei ja ins Georgische übersetzt. Dass ich über Abchasien nach Russland fahren will, ist ihrer Meinung nach sehr gefährlich, da Abchasien russisch besetztes Gebiet sei und eigentlich Kriegsgebiet - wie die offizielle Meinung des Westens.

Die Mutter und der Sohn sind wie ich ziemliche Nachtmenschen, um 2 h morgens wird noch ausgibig Proviant für mich vorbereitet, z.B. Tschurtschkellas, das sind wurstförmige Süßigkeiten aus Traubensirup und Walnüssen, für mich die ideale Radlernahrung. Eier werden gekocht, Brot eingepackt. Ich melde mich trotz der fortgeschrittenen Stunde dennoch an, mit dem Vater, der seit Stunden nebenan im Schlafzimmer liegt, um 5:30 h zur Morgenschicht in den Kiosk zu fahren, um das Tageslicht besser zu nutzen und Nachtfahrten zu vermeiden. In der Nacht regnet es noch ganz ordentlich, es war die goldrichtige Entscheidung, bei dieser wunderbaren Familie zu übernachten. Übrigens treffe ich einige Tage später nochmal den Sohn des Hauses in Tifils/Tbilisi, wo er seinen Bruder besucht.
Georgische Gastfreundschaft: die Tische biegen sich, "der Gast kommt von Gott"
Georgische Deutschbücher
Meine neuen Freunde
Oberer Stock eines georgischen Wohnhauses