Sofort trete ich eine Lawine los: es sei völlig ausgeschlossen, dass ich hier fahren kann, die Straße sei extrem schlecht, außerdem gäbe es Wölfe und es sei überhaupt sehr gefährlich. Bevor ich widersprechen kann, habe ich schon einen Telefonhörer in der Hand. Am anderen Ende der Leitung meldet sich eine georgische Deutschlehrerin, die mir in ziemlich fehlerfreiem Deutsch erklärt, ich soll mich nicht vom Fleck rühren, sie kommt vorbei, um mich abzuholen, ich bleibe die Nacht bei ihr. Der Gedanke, ob so etwas umgekehrt in Deutschland einem verschwitzten Georgier passieren würde, ist zu absurd, um ernsthaft gedacht zu werden. Ich bin am Grübeln, eigentlich wollte ich schon weiterfahren ... Aber dann schieben mich die Kiosk-Besitzer, eine Mutter mit ihrem Sohn, erstmal ins Hinterzimmer und geben mir ordentlich was zu essen. Alles ist so unglaublich lecker, nicht nur, weil ich sehr hungrig bin. Ständig holen sie mir aus dem Kiosk etwas zu trinken und nehmen natürlich kein Geld. DAS ist sie also, die unglaubliche georgische Gastfreundlichkeit. Der Sohn des Hauses spricht ein paar Brocken Englisch, die Mutter ein paar Brocken Deutsch, irgendwann kommt der Vater hinzu, mit dem ich ein paar Brocken Russisch reden kann. Es ist der Beginn eines wunderbaren Abends.
Mein Fahrrad wird in den Transporter gepackt und wir fahren doch, nach einer kleinen Ortsrundfahrt durch Akhmeta, zur Kioskfamilie nach Hause, so sehe ich zum erstenmal ein georgisches Wohnhaus von innen. Ich bin beeindruckt von der Geräumigkeit, vor allem der obere Stock, der recht unbenutzt aussieht, ist sehr edel eingerichtet mit Klavier, Lüster, Stuckdecke, bestickten Vorhängen. Vier große Kinderzimmer gibt es, von denen derzeit nur eines bewohnt ist. Es kommt die Cousine hinzu, die perfekt Französisch spricht, das hat sie studiert. Endlich haben wir eine gemeinsame Sprache. Aber auch dank "Google.translate" kann ich mich mit dem Sohn tippend am Computer notdürftig unterhalten, Internet mit Modem funktioniert einwandfrei. Ansonsten gibt es in der Küche fließendes Wasser. Im Garten gibt es ein Holz-Klohäuschen ohne Wasser. Die Mutter zeigt mir ihre Deutschbücher und kann noch ein paar Reime auf deutsch aufsagen. Ich bin beeindruckt vom Bildungsniveau hier auf dem Land, wenn man bedenkt, dass die Sprachen incl. Schrift komplett verschieden sind. Nach ihrer Meinung sind Deutsch oder Französisch gar nicht so extrem unterschiedlich vom Russischen, es sei auch "fast die gleiche Schrift". Naja, fast. Ich frage die Cousine, was es mit Thomas Mann auf sich hat, ob das Gerücht stimmt, dass man den hier kennt (Insider erinnern sich an die nette Geschichte von Chris am 18.4.2003). Klar sagt sie, der sei ja ins Georgische übersetzt. Dass ich über Abchasien nach Russland fahren will, ist ihrer Meinung nach sehr gefährlich, da Abchasien russisch besetztes Gebiet sei und eigentlich Kriegsgebiet - wie die offizielle Meinung des Westens.
Die Mutter und der Sohn sind wie ich ziemliche Nachtmenschen, um 2 h morgens wird noch ausgibig Proviant für mich vorbereitet, z.B. Tschurtschkellas, das sind wurstförmige Süßigkeiten aus Traubensirup und Walnüssen, für mich die ideale Radlernahrung. Eier werden gekocht, Brot eingepackt. Ich melde mich trotz der fortgeschrittenen Stunde dennoch an, mit dem Vater, der seit Stunden nebenan im Schlafzimmer liegt, um 5:30 h zur Morgenschicht in den Kiosk zu fahren, um das Tageslicht besser zu nutzen und Nachtfahrten zu vermeiden. In der Nacht regnet es noch ganz ordentlich, es war die goldrichtige Entscheidung, bei dieser wunderbaren Familie zu übernachten. Übrigens treffe ich einige Tage später nochmal den Sohn des Hauses in Tifils/Tbilisi, wo er seinen Bruder besucht.
Georgische Gastfreundschaft: die Tische biegen sich, "der Gast kommt von Gott" |
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