Dienstag, 25. Januar 2011

Donnerstag 3. Juni 2010: Akhmeta, Tianeti, Zhinvali, Ananuri, Pasanauri (99 km)

Nach drei Stunden Schlaf wird es heute der anstrengendste Tag der Tour. Wenn die Leute von Akhmeta nach Tbilisi fahren, nehmen sie wegen des schlechten Straßenbelags nicht die knapp 90 km über Tianeti, sondern fahren einen weiten Bogen nach Osten aus, insgesamt etwa 200 km, macht 110 km Umweg. Ich will trotz aller Warnungen meiner Gastgeber über Tianeti fahren, eine ganze Tagesetappe wieder zurückzufahren kann ich mir einfach nicht vorstellen, notfalls will ich schieben. Der Belag ist tatsächlich grottenschlecht, es werden am Ende des Tages 55 km üble Schotterpiste auf ungefedertem Fahrrad gewesen sein. Dafür ist die Natur einfach grandios und ich habe sie fast für mich allein. Außerdem bin ich bei jedem Anstieg voller Hoffnung, für die georgische Heerstraße schon ein paar Höhenmeter gewonnen zu haben. Diese Hoffnung stirbt zum Glück erst ganz zuletzt bei der finalen Abfahrt hinunter nach Zhinvali. Bei der ersten, hart erkämpften Anhöhe gut 560 HM oberhalb Akhmeta, bin ich noch guter Dinge. Doch immer wieder geht es steil bergab, und hinter der Kurve kommt der nächste Anstieg, es geht die ganze Zeit 200 - 300 HM bergauf, bergab. Ich fahre mir ein kleines Loch ein, das ich gleich flicken kann. Ich bin froh, dass hier in dieser Abgeschiedenheit nichts Gravierenderes passiert.
Schotterpiste von Akhmeata bis Zhinavli
Blick auf den Kaukasus
Ich komme an einem Denkmal vorbei, an dem ich nur 1941, 1942 und 1945 lesen kann. Aber Deutsche waren meines Wissens während des Überfalls auf die Sowietunion nie in Georgien, nur in den abchasischen Bergen (Nachtrag: in dieses völlig entlegene Dorf namens "Pskhu" hinter dem Ritsa See fahre ich im kommenden Jahr).

Nach 31 km erreiche ich endlich Tianeti, einen sehr nett gelegenen Ort mit besonders reichem kulturellen Leben, wie ich von meiner Gastfamilie erfahren habe. Kurz hinter dem Ortsende geht die Schotterpiste wieder los, es geht hinauf auf 1380 m, teilweise muss ich tatsächlich schieben, gerade in der Mittagshitze eine schweißtreibende Angelegenheit. Irgendwann wird der Blick auf die ersten Häuser entlang der berühmten Georgischen Heerstraße frei, gleich westlich dahinter liegt das umkämpfte Südossetien. Eines der ganz vereinzelt entgegenkommenden Autos hält an, ein Mann steigt aus, fragt, wo ich hinwill und dass er mich hinbringen kann. Ich lehne dankend ab und will mich wieder auf's Rad schwingen. Er redet und redet, dass ich einsteigen soll. Ich habe es plötzlich eilig und zische los, er ruft hinterher. Zum erstenmal habe ich ein mulmiges Gefühl, die Straße ist total einsam und man könnte nirgendwohin ausweichen, rechts ist steiler Fels, link Abgrund.

Unten in Zhinvali - nicht zu verwechseln mit der südossetischen Hauptstadt Zchinwali - mündet mein Schotterweg in die tiptop geteerte georgische Heerstraße. Leider muss man hierzu eine Brücke auf etwa 800 m überqueren, unterhalb des großen Stausees. Gut, dass ich das nicht vorher gewusst habe. Gleich hinter der Einmündung stoße ich auf ein Restaurant, etwas, was ich seit Säki in Aserbaidschan nicht gesehen habe und auch bis Tbilisi nicht sehen werde. Ich bin ausgehungert, fertig. Die Pelmeni, die hier Chinkali heißen, werden trotz der eigentlich geschlossenen Küche von den sehr freundlichen Köchinnen extra für mich zubereitet und schmecken einfach fantastisch. Bei einem Bier kommt mir die Idee, den Schlauch meines Kabelschlosses als Pedalschlaufe zu verwenden, das ist genauso effizient wie der vorgestern verlorengegangene Pedal-Klick. Ohne Klickpedale wollte ich mich ja nicht unbedingt auf den Abstecher zum Kreuzpass auf etwas 2300 HM wagen. Aber jetzt gibt es keine Ausrede mehr, ich will den Kaukasus auf der Georgischen Heerstraße bezwingen, es wird mein erster richtiger Gebirgspass überhaupt werden.
Chinkali bzw. Pelmeni
Ersatz für verlorengegangenen Pedal-Klick
Der erste Höhepunkt auf der Heerstraße ist die spektakulär am hinteren Ende des großen Stausees gelegene Festung Ananuri, die nach einem ersten Auf- und Abstieg sichtbar wird. Der Stausee war natürlich zur Bauzeit der Anlage noch nicht vorhanden. Danach geht es relativ eben das Flußtal entlang, es sind ideale Fahrbedingungen. Dennoch finde ich, es liegt eine gewisse Aggression in der Luft. Sind es nur die Schäfer, die (betrunken?) mitten auf der Straße torkeln? Oder dass ich ab und zu komisch angeredet werde, ohne natürlich ein Wort zu verstehen? Oder dass viele Männer deutlich sichtbar bewaffnet im Militärlook herumlaufen? Oder dass gleich hinter dem Hügel Südossetien liegt, das sich de facto nicht mehr in der Gewalt Georgiens befindet? Oder dass ich keine Ahnung habe, wo ich in diesem engen Tal unbemerkt biwakieren soll? Aber dann stoße ich auf eine Geburtstagsfeier am Flußufer. Mit meiner kleinen Papier-Georgien-Fahne am Gepäckträger habe ich natürlich gleich alle Sympathien gewonnen.
Ananuri
Geburtstagsfeier an der georgischen Heerstraße
Ich bin fasziniert, wie die noch feiern können, vor allem scheint es keine Altersbarrieren zu geben. Hier mein kleiner Film-Mitschnitt:

Natürlich werden gleich Leute angerufen, die Englisch können, nur weiß ich nicht, was ich eigentlich mit denen reden soll. Egal. Dann werden mir die feinsten Speisen mitgegeben, ein Haufen Grillfleisch, außerdem füllen sie mir gegen meinen Protest zwei Liter Wein aus ihrem Kanister ab, der kommt aus Kvarelien und ist ihrer Meinung nach der beste Energielieferant für mich auf der Passstraße. Sie bieten mir an, mich mit dem Auto "hinzubringen", wohin auch immer ich muss, aber ich sage, ich nächtige gleich um die Ecke im Dorf Pasanauri. Irgendwann wird es dunkel, wir verabschieden uns, es bleibt eine unvergessene Begegnung. 
 
In Pasanauri hingegen kaufe ich in einem kleinen Laden etwas und bin sehr verwirrt von dem demonstrativen Desinteresse der Verkäufer, sie behandeln mich eine ganze Weile lang wie Luft. Von den auf der Straße herumstehenden Grüppchen werde ich angestarrt. In diesem Ort (und dann sehr lange nicht mehr) würde es Unterkünfte geben, aber ich kann mir einfach beim besten Willen nicht vorstellen, nachdem ich seit 6 Uhr morgens im Freien bin, jetzt einfach in ein Haus hineinzugehen. Also weiter. Gegen 23 h entdecke ich endlich eine kleine Brücke über einen seitlich einmündenden Gebirgsbach, dahinter kann ich neben einem unbeleuchteten Haus am Gartenzaun etwas abseits der Straße biwakieren.

In der Nacht schrecke ich hoch, habe ich einen Frosch im Schlafsack? In nullkommanix stehe ich senkrecht auf der Matte und streife zappelnd den Schlafsack ab. Ach so, es war nur ein Schaschlikstück, das sich beim Umpacken verirrt hat.