Dienstag, 25. Januar 2011

Freitag 4. Juni 2010: Gudauri, Kreuzpass, Kazbegi/Stepantsminda (86 km)

Beim Aufwachen kommt eine Dame mit Einkaufstüten direkt an meinem Schlafplatz vorbei und würdigt mich buchstäblich keines Blicks. Wahrscheinlich falle ich in die Kategorie "obdachloser Landstreicher". Dann geht die Sonne über den Bergen auf, eine spektakuläre Szenerie! Alle Bedenken und Ängstlichkeiten von gestern sind wie weggeblasen, die Natur ist atemberaubend. Mein Biwak befand sich auf 1175 m, die Straße geht noch relativ eben weiter. Am Wegrand kann man gestrickte Handarbeiten und die typischen Schaffellmützen kaufen.
Handarbeiten
Typische Schaffellmützen

Man trifft auf extrem windige Blechbuden, die Armut ist zum Teil sehr offensichtlich. Vereinzelt sind historische Wachtürme zu sehen. Bei Mleta, auf etwa 1520 m, wird der Fluss Aragvi überquert, nun folgt der richtige Anstieg. In laut meinem Reiseführer 18 Serpentinen geht es zunächst hinauf zum einzigen georgischen Wintersportort Gudauri. Als Berg-Anfänger (zumindest Berg-per-Fahrrad-Anfänger) muss ich sagen, es ist gar nicht so anstrengend wie befürchtet. Wegen der Höhe ist es nicht so heiß, und mein Gepäck ist ja superleicht. Zum Glück habe ich gestern gut gegessen, denn die Versorgungslage ist dürftig. Kurz vor Gudauri mache ich Pause an einem kleinen, sehr spärlich bestückten Kiosk ohne Kühlschrank und lerne Mariami kennen. Sie sprich perfekt Englisch, das kommt daher, dass sie von ihrem 16. bis 24. Lebensjahr Ski-Leistungssportlerin war und zu dieser Zeit in Innsbruck gelebt hat! Sie sei eine gute Freundin von Maria Riesch gewesen. Bei der Rückfahrt morgen wollen wir länger plaudern, momentan zieht es mich weiter. Gudauri scheint ein ganz ordentlicher Wintersportort zu sein, es gibt viele Hotels, einen Skiverleih, die Skilifte kommen aus Österreich. Angeblich kommen auch viele Heli-Skifahrer hierher, um ihrer in den Alpen verbotenen Leidenschaft zu frönen. Restaurants oder kleine Geschäfte sind aber im Sommer Fehlanzeige, wir sind hier nicht in Zermatt. Bei den letzten Bruchbuden hinter Gudauri nagt eine Kuh an einem Pappkarton, zwei Monsterhunde lungern am Wegrand. Ich fahre Schrittgeschwindigkeit, bis sie auf mich zulaufen, dann trete ich was geht in die Pedale und kann sie irgendwie abhängen. Nun ist der Weg endlich frei.
Kurz nach Gudauri: der Weg ist frei
Komplett unverbaute Berglandschaft

Noch grüble ich, wie weit mag wohl Alexandre Dumas vor 150 Jahren bei seinem kühnen Winterbefahrungs-Versuch des Kreuzpasses gekommen sein ... und schon bin ich auf der Passhöhe, der Kaukasus ist bezwungen! Hier auf 2395 m gibt es seit kurzem einen Soldatenfriedhof für deutsche Kriegsgefangene nach dem Zweiten Weltkrieg, die in Georgien viel beim Straßen- und Tunnelbau eingesetzt wurden (Buchtipp: "Georgisches Tagebuch, Fünf Jahre kriegsgefangen im Kaukasus" von Wend Graf von Kalnein).
Passhöhe 2395 m, der Kaukasus ist bezwungen!
Deutscher Kriegsgefangenen-Friedhof

Ich überlege, soll ich den Abstecher noch bis zur russischen Grenze ausdehnen? Es ist mir nicht klar, wie tief die liegt und ob es dort etwas zu sehen gibt. Aber wann hat mal schon einmal Gelegenheit, in ein gänzlich unbekanntes Gebiet zu fahren. Also, auf geht's! Kurz hinter der Passhöhe befindet sich gleich ein riesiges Loch in der Straße. Dann rollt eine Kolonne schwarz verspiegelter Limousinen heran, die Polizei dirigiert sie geschickt um das Loch herum, es ist mir ein Rätsel, wie hier niemand hineinfällt. In den Autos sitzen orthodoxe Mönche mit langen Bärten und einige schwarz verhüllte Frauen. Hier und da schiebt sich ein automatisches Fenster herunter, ein Mann küsst einen Mönch oder eine Frau küsst auf Knien die Hand eines Mönches. Die Mönche segnen einige Herumstehende, sogar mir wird von weitem segnend zugewinkt. Überall quillt ungebändigt das Schmelzwasser in Strömen aus den Hängen heraus.
Straße weggeschwemmt
Abenteuerliche Fahrverhältnisse
Eine riesige Schafherde bevölkert den Hang hinunter bis nach Kobi, den ersten Ort jenseits der Passhöhe. Dieser wirkt für mich extrem arm, beinah unbewohnbar. Danach ist die Straße wieder butterweich, die Bedingungen sind wieder perfekt. Verkehr gibt es praktisch keinen, da die Straße ja zur teilweise geschlossenen georgisch-russischen Grenze führt.
Tausende Schafe
Ab Kobi: wieder butterweich geteert
Ein großes Stalin-Monument steht am Wegrand. Im Kaukasus lebt seine Verehrung noch fort. Kurz vor Sioni gibt es wieder einen ordentlichen Kiosk, den ersten seit Gudauri, eigentlich Pasanauri. Zu meiner Überraschung können die Angestellten hier, mitten im Kaukasus, auf deutsch bis zehn zählen! Und schon bin ich in Kazbegi alias Stepantsminda, den letzten Ort vor der sagenumwobenen Darjal Schlucht. Es gibt im Ort Anflüge von Tourismus, einige kleine Hotels, Pensionen und Kioske, ein paar Backpacker streunen herum. Drei Stunden sind es hierher mit dem Minibus aus Tbilisi, die Fahrt stelle ich mir aber sehr holprig vor. Reise Know-How sagt, es ginge auf der Heerstraße von Tbilissi bis Kazbegi fast nur bergauf, das ist kompletter Unsinn, Kazbegi liegt immerhin mehr als 600 HM unter der Passhöhe. Und seit Stunden habe ich den Besitzer eines Hostals am Hals, den ich gestern irgendwie auf der Geburtstagsfeier am Handy gesprochen hatte. Er fängt mich immer wieder am Wegrand ab, um sicherzustellen, dass ich nicht woanders als in seiner Pension nächtige.
Dorf kurz vor Kazbegi/Stepantsminda
Stalin Memorial
Aber ich schieße gleich über Kazbegi hinaus, hinein in die Darjal Schlucht. Gleich nach der ersten Kurve bin ich erschlagen von der Wucht der Naturgewalten, ein gigantisches Fahrgefühl! Etwa 11,5 km und 440 HM geht es weiter hinab bis zur russischen Grenze. Kurz vor dieser begegnen mir zwei Brüder, sie haben Ferien und verbringen ein paar Tage hier beim Angeln - ihre Alternative zu den Videospielen einer westeuropäischen Jugend. Es geht vorbei an der beeindruckenden Festung Tamars. An der Grenze, gut 1000 HM unter der Passhöhe, bin ich überrascht, Ex-UdSSR-Bürger dürfen ganz normal drüber. Aus Interesse vor der Reaktion frage ich, ob ich auch kurz dürfe, aber die Antwort ist natürlich нет - nein. Die Grenzbeamten sind sehr freundlich und fragen, ob sie mir irgendwie helfen können, sie meinen ja, für mich sei gerade eine Katastrophe hereingebrochen, diese Grenze zu umfahren kostet Wochen. Aber ich sage ganz lässig "schon OK" und mache mich wieder auf den Rückweg Richtung Kazbegi. Die georgische Heerstraße war ja von Anfang an als Abstecher geplant, Ziel ist Tbilissi morgen oder übermorgen.
Hinein in die Darjal Schlucht!
Kurz vor der georgisch-russischen Grenze
Der mächtige über 5000 m hohe Kasbek lässt sich immer wieder durch die Felsen blicken. Ein Gewitter droht aufzuziehen. Auf der Umgehung eines Tunnels finde ich den perfekten Biwakplatz unter einer überhängenden Felswand, hier bin ich vor Regen sicher, außerdem sieht mich keiner, und doch bin ich nicht weit von der Straße entfernt. I-Tüpfelchen ist ein Mini-Wasserfall am Tunneleingang, was will der erschöpfte Radfahrer mehr? Das Gewitter kommt doch nicht, es wird ein wunderbarer, stimmungsvoller Abend, hier auf meinem spektakulären Balkon auf 1660 m.
Für mich dicht: georgische Grenze nach Russland
Traumbiwakplatz