Zunächst begegne ich einer herzigen Schulklasse. Als ich kurz anhalte, bin ich sofort umzingelt, die Mädchen sind total aus dem Häuschen und küssen mich immer wieder auf die Wangen. Ein drahtiger Junge schnappt sich mein Fahrrad, schon ist er die Straße hinaufgefahren, umgedreht und saust mit einem Karacho wieder abwärts, dass es mir den Atem verschlägt. Er sei erfolgreicher Kickboxer, erfahre ich. Unzählige Fotos müssen mit den Handys gemacht werden, jeder und jede darf sich auf meinem Rad versuchen, von den Mädchen kann es aber keine alleine lenken. Dann fragen sie mich, ob ich gerne Chatschapuri esse, ein Nationalgericht. Prinzipiell ja, sage ich, woraufhin sie jubelnd in die Luft springen und mich hinüber zu ihrem Picknick- und Grillplatz schleppen. Eigentlich hupt ihr Bus schon die ganze Zeit zum Weiterfahren, schließlich packt mir die Lehrerin noch eine riesige Tüte voller georgischer Spezialitäten ein und weg sind sie.
Dann leistet mir ein Schäferhund ein Weilchen Gesellschaft, so ein freundliches Exemplar habe ich beim Radfahren noch nie erlebt. Wenn es nur mehr von dieser Sorte gäbe:
Es wird immer dunkler. Ich begegne einem älteren, recht arm aussehenden Schäfer und biete ihm etwas von meinem Proviant an, die Lehrerin hat es viel zu gut mit mir gemeint. Er lehnt dankend ab, er habe genügend zu essen. Dann fragt er, wo mein Ehemann sei und fügt an, man gehe hier als Frau nicht allein auf die Straße. Mit Ehemann - ja, allein - nein. Er wiederholt mit erhobenem Zeigefinger und Kopftschütteln: "allein - neinneinnein". Dann sehe ich aber doch eine Frau, und zwar eine stöckelbeschuhte Blondine, die von einem Mercedes ausgeladen und von einem am Straßenrand wartenden Mann entgegengenommen wird. Sie gehen zu seiner windigen "Behausung".
Dann fahre ich einen kleinen Anstieg hinauf, zwei Typen gehen hintereinander auf der Straße. Auf einmal dreht sich der Eine um und packt mich mit beiden Händen fest an der Hüfte. Ich höre mich um Hilfe schreien. Irgenwie kann ich mich losreißen. Meine Güte, der Andere ist noch vor mir, die Straße ist eng, er könnte mich ohne weiteres vom Rad pflücken. Ein tonnenschwerer Stein fällt mir vom Herzen, als er das nicht macht und mich durchlässt. Es ist nun stockfinster. Wenn es nur irgendeine Unterkunft gäbe, aber: nichts, nirgends. Der Wald neben der Straße ist steil und felsig, dort kann man sich nicht verstecken. Außerdem streunen überall einzelne Männer herum. Wer weiß, ob die nicht auch im Wald schlafen. Endlich kommt ein Kiosk. Durch ein kleines vergittertes Guckloch frage ich den auf dem Sofa liegenden Besitzer, wo es eine Unterkunft gibt, Hotel, Gostinitsa, wo? Er meint, ich kann bei ihm pennen, ich soll schon mal raufgehen, er kommt gleich nach. Panik! Schnell weg, er läuft aus dem Kiosk heraus, zum Glück bin ich schneller, er schreit mir etwas hinterher. Noch nie hatte ich auf einer Radtour solche Angst wie jetzt gerade. Meinen die, ich bin Freiwild?
Endlich treffe ich kurz vor Ananuri auf einen weiteren Kiosk, in dem ein älteres Ehepaar hinter der Theke steht. Endlich Schutz, und wenn ich hier auf dem Boden sitzend übernachte! Ich versuche zu erzählen, was passiert ist und dass ich unbedingt einen Unterstand brauche. Sie wissen auch nichts, aber dann kommt ein Engel! Ein Kunde holt seine Frau aus dem Auto herein, die Englisch spricht. Sie sagt direkt, ohne es mit ihrem Mann abzusprechen, dass ich zu ihnen mit nach Hause komme, es ist übrigens das Haus seiner Eltern. Ich kann es nicht glauben, bin total aufgelöst. Sie sagt, sie sei gerade Mutter geworden und es sei das natürlichste von der Welt, dass sie auch für mich sorgt. Immerhin sei sie ein Mensch. Wie recht sie hat. Ich werde dieser Frau ewig dankbar sein. Sie hat ein paar Jahre in Griechenland gearbeitet. Wir stellen fest, dass wir genau gleich alt sind, ihr Ehemann ist deutlich jünger. Es scheint die Beiden nicht zu stören, dass mein vom Regen nasses Rad ihr neues Auto mit einer braunen Brühe volltropft. Erzähle man das einem Deutschen! Zu Hause bewundern wir gleich das Baby, daneben schlafen die Großeltern. Wir essen zu abend, trinken ein Glas Bier, unterhalten uns auf Englisch. Sie - schon ein bisschen in der Welt herumgekommen und ganz sicher keine Mimose - sagt, sie würde hier niemals bei Dunkelheit allein herumspazieren. Das sei eine klare Provokation, wir hätten hier eine "Macho-Gesellschaft", jede Frau hält sich an die Regeln. Was sie mir auch auf meine Anfrage hin erzhält, ist, dass sie 2008 während des georgisch-südossetischen Krieges sehr viel Angst gehabt hätten. Überall auf der georgischen Heerstraße seien Panzer gewesen, und sie hätten nicht gewusst, was eigentlich los sei.
Ich bekomme ein sehr stilvolles Gästezimmer im oberen Stock mit Lüster und Stuckdecke. Das Haus ist überhaupt sehr ähnlich zu dem meiner georgischen Freunde in Akhmeta, ebenfalls eine wundervolle, von Weinreben umrankte Villa mit geräumigem Obergeschoss. Gewohnt wird unten. Und dann kommt zum Abschluss des Abends noch eine schaurige Szene, über die ich nicht weiß, ob ich lachen oder weinen soll: Mitten in der Nacht steht der Ehemann in meinem Zimmer, aber zum Glück haut er von selber wieder ab, bevor ich losschreie. Gibt's ja nicht!