Dienstag, 25. Januar 2011

Sonntag 6. Juni 2010: Ananuri, Mzcheta, Tbilisi, Dzgevi (119 km)

Bei der ersten Morgendämmerung, als die ersten Leute im Haus aufgestanden sind, verdrücke ich mich so schnell es geht. Leider kann ich mich nicht von meiner Retterin selber verabschieden, sie schläft noch. Kurz vor Ananuri merke ich, meine Regenjacke ist noch im Haus! Puh, eigentlich wollte ich diesen Mann nicht mehr so bald treffen. Aber er ist ganz kooperativ, reicht mir die Jacke herüber, und weg bin ich. Definitiv wach werde ich beim steilen Anstieg hinter der auch beim zweiten Mal umwerfenden Festung Ananuri. Dann geht es locker hinunter zur Kirchenmetropole Mzcheta. Auffällig viele Polizisten sieht man, hinter dem Hügel befindet sich das de facto von Georgien unabhängige Südossetien. Außerdem fallen mir die Straßenschlider auf: sie zeigen neben Tbilisi meist nur Sochum"i" an (mit georgisch/englischem "i" am Ende geschrieben), die Hauptstadt Abchasiens, des anderen de facto von Georgien unabhängig gewordenen Landes(teils).
Ananuri
Untere Georgische Heerstraße
Ich erinnere mich, meine vor-vorgestrigen Gastgeber hatten von der Anlage Mzcheta ein riesiges Modell im Haus stehen. Die Stadt ist das spirituell-geistliche Herz Georgiens, dessen Bedeutung man vielleicht als Ausländer gar nicht begreifen kann. Eine der zahlreichen Legenden besagt, dass sich das Kreuzigungsgewand Christi unter einer der Kirchen befinde (hier eine 15minütige Dokumentation über die religiöse Bedeutung von Mzcheta). Pilgerschwärme von Jung und Alt ziehen durch die riesigen Anlagen.
Kirchenmetropole Mzcheta
Mzcheta
Am Stadtrand von Tbilissi komme ich mit einem freundlichen, älteren Tankstellenwart ins Gespräch. Wir sitzen auf der Bank, er erzählt mir von Abchasien, seiner Heimat. Das Leben geht weiter, sagt er, jetzt sei er eben hier. Ich höre stumm zu, was soll man sagen? Man sympathisiert mit den wehrhaften Abchasen und ist sprachlos gegenüber dem Schicksal der georgischen Flüchtlinge, die nun immerhin über 5 % der Bevölkerung in Georgien ausmachen und im Westen des Landes recht präsent sind.

Nach 80 Tages KM stehe ich schon mitten in Tbilissi auf dem mächtigen Rustawali Platz! Die Bandbreite meiner Erwartungen deckt alles ab zwischen kultureller Hochburg, in der "der Gast von Gott kommt" und "bloß nicht unbewaffnet auf die Straße gehen". Johann hatte mir vorgestern von seinem Mitbewohner erzählt, der je nach Tageszeit ein kleines "Einkaufs-Messer", oder ein größeres "Ausgeh-Messer" stets zur Selbstverteidigung mit sich trug. Bei einem Bier lerne ich den deutschen Opernsänger Klaus R. kennen, der hier einen Liederabend gibt. Er sei einmal bei Eduard Schewardnadse zu Gast gewesen. Dieser wohne oberhalb der Stadt und man brauche schätzungsweise einen Tag, um sein riesiges Anwesen zu Fuß zu umrunden. Und dann steht schon Giorgi aus Akhmeta vor mir, wir ein Wunder, dass er am Handy erstens verstanden hat, wo ich bin und zweitens 5 Minuten später schon da ist. Dann kommen ein paar fesche georgische Studentinnen, die allesamt perfekt englisch sprechen, und holen den Opernsänger zu einem Ausflug ab. Ich klinke mich aber aus, denn ich möchte heute Abend Tbilissi schon verlassen. Abchasien ruft, ich weiß noch nicht einmal, ob es überhaupt mit der Einreise klappt. Als wichtigstes brauche ich jetzt erst einmal ein Internet Café, um zu sehen, ob die Grenzübertritts-Erlaubnis vom abchasischen Außenministerium schon da ist. Ich hatte ihnen vor Abflug noch geschrieben, dass ich sie dringend brauche, ab Tbilisi werde ich kaum eine Möglichkeit haben, sie abzurufen und auszudrucken.
Wiedersehen mit Giorgi
Die Studentinnen und der Opernsänger
Juhu, sie ist da! Der Traum von Abchasien nimmt konkrete Formen an, und das mitten in Georgien. Ich kurve noch ein bisschen durch die großen Prachstraßen und das einzigartige Bäderviertel, wo die Schwefelquellen unter den typischen Kuppeln bis zu 47 Grad heiß sind. Märchenhafte Fassaden, verwunschene Hinterhöfe und viele kunstvollen Balkone fallen mir ins Auge. Es wird viel gebaut und renoviert, was auch not tut. Nur die neue geschwungene Fußgängerbrücke über die Kura passt meiner Meinung nach nicht besonders in das traditionelle Stadtbild und ist überdies komplett überflüssig. Und wer hat die bitte geplant? Man muss das Fahrrad eine lange Treppe hinauftragen.
Bäderviertel Tbilisi
Ein Hauch von Samarkand
Tbilisi Stadtzentrum
... und wenige Meter daneben
Es gibt noch viel zu tun
Allgegenwärtig: Fünfkreuzflagge
Beim Verlassen der Stadt zieht schon die Abenddämmerung auf. An einer Tankstelle fahre ich so schnell es geht an einigen düsteren Gestalten vorbei. In dem Moment fällt mein batteriebetriebenes Vorderlich ab, das schon die ganze Zeit gewackelt hat. Ich will aber auf keinen Fall in Reichweite dieser mich anstarrenden Leute stehenbleiben und es aufheben, so habe ich ab jetzt nur noch Stirnlampe und Rücklicht.

Die Strecke zurück Richtung Mzcheta geht teilweise durch stockfinsteren Wald, ich kann die Straße nur erahnen, es gibt keinerlei Straßenbeleuchtung. Vor Mzcheta zweigt links die Nebenstraße Richtung Gori über Dzgevi ab, ich hatte die Abzweigung schon heute Mittag bei der Herfahrt lokalisiert, jetzt in der Finsternins hätte ich sie wohl nicht gefunden. Hier hoffe ich endlich auf ein ruhiges Waldstück, denn ich habe schon wieder Angst, gerade, wenn ich durch kleine, unbeleuchtete Ortschaften fahre. Endlich finde ich auf einer Eisenbahnunterführung neben den Gleisen im dornigen Gestrüpp ein etwas geschütztes Plätzchen in Gesellschaft vieler Schnecken. Nicht ideal, aber auf keinen Fall möchte ich hier noch weiterfahren. In der Nacht fängt es auch noch zu regnen an, ich schlage mir die halbe Plane drüber, also die Hälfte, auf der ich nicht liege. Mehrmals fährt nebenan ein Zug vorbei. Habe schon bessere Nächte erlebt. Aber auch schlechtere.