Dienstag, 25. Januar 2011

Montag, 7. Juni 2010: Akhalkalaki, Gori, Khasuri (124 km)

Als ich nach dieser unbequemen Nacht um halb sieben losfahren will, taucht plötzlich hinter einem Baum ein Straßenkehrer mit Schubkarren auf dem Weg zur Arbeit auf. GOETHE! ruft er mit leuchtenden Augen, als ich sage, woher ich komme. Die Eisenbahn nebenan sei im Jahr 1903 von Deutschen gebaut worden. Ob das stimmt? Jedenfalls hat es schon im 19. JH vielfältige Handelsbeziehungen zu Deutschland gegeben und beim Auswärtigen Amt heißt es, "Walter Siemens, der 1861/62 Konsul des Norddeutschen Bundes in Transkaukasien mit Sitz in Tiflis war, hatte um 1860 die erste Telegrafenleitung zwischen Tbilissi und Kodschori gebaut".

Weiter geht es südlich der Eisenbahn auf der sehr verkehrsarmen, mal top geteerten, mal grottenschlechten Nebenstraße durch die sanft gewellte Landschaft zwischen großem und kleinem Kaukasus. Wunderschöne Blumenwiesen, Kuh- und Schafherden säumen den Weg. Noch dazu habe ich Rückenwind! In Akhalkalaki gibt es den zweiten Kiosk des Tages. Die Leute sind sehr nett und schütten mir immer Bier und Wodka nach. Der Mann mit der Wodkaflasche deutet stolz auf einen Herrn im weißen Kittel: den Dorfarzt. Neben der Wodka- ist also auch die medizinische Versorgung gewährleistet, was braucht ein Dorf mehr?
Deutsche Eisenbahn?
Mohnfelder
Zwischen Großem und Kleinem Kaukasus
Trinken bis der Dorfarzt kommt
Zum erstenmal treffe ich nun auf eine Flüchtlingssieldung. Irgendwo habe ich gelesen, es gäbe ein "Dorf bei Gori", das mit deutscher Hilfe gebaut, besser gesagt: aus dem Boden gestampft wurde und 300 georgischen Flüchtlingsfamilien aus Abchasien eine Unterkunft bietet. Die Häuser sind sehr symmetrisch, haben aber wohl keine Kanalisation, vor jedem Wohnhaus steht ein "Häusl" aus Holz. Die ganz hohe Baukunst war bei diesen Häusern wohl nicht am Werk. Dann komme ich wieder in ein richtiges Dorf mit soliden, weinrebenumrankten Häusern. Eine Frau schenkt mir kiloweise Obst aus ihrem riesigen Garten. Sie hat einmal in Deutschland gelebt, wo es ihr sehr gefallen hat.
Georgisch - abchasische Flüchtlingssiedlung
Finden Deutschland gut

Mitten in der Prärie liegen etwa 10 bewaffnete Soldaten im Gras und beobachten mit Ferngläsern das abtrünnige Südossetien, das von hier aus wirklich nur einen Steinwurf entfernt liegt. Kurz vor Gori bringe ich es bei extremem Rückenwind, wie man ihn vielleicht alle fünf bis zehn Jahre einmal erlebt, nicht übers Herz, die Abstecher ins Höhlenkloster Uplisziche oder zur Kirche Atenis Sioni mitzunehmen, eigentlich eine Sünde. Aber Chris hat das am 21. April 2003 schon erledigt, abgesehen davon sind wir die gleiche Nebenstrecke gefahren, nur in entgegengesetzte Richtungen. Gori kann kommen!

Gori definiert sich dadurch, dass die Stadt einen berühmten Sohn hat: Iossif Wissarionowitssch Dschugaschwili alias Josef Stalin. Ich komme Anfang Juni 2010 gerade noch in den "Genuss", das mächtige 17 m hohe Denkmal mitten auf dem Stadtplatz zu erleben, wenige Tage später wird es in den Vorgarten des großen Stalin Museums umgezogen.

Im Postamt schicke ich mir zunächst ein Paket nach Hause mit Handschuhen, Wollsocken usw., die warmen Sachen hatte ich nur für die georgische Heerstraße mitgenommen, aber eigentlich nie gebraucht. Die beiden Postdamen kümmern sich rührend um meinen Fall. Wir sind über eine Stunde beschäftigt, ich muss zwölfmal meine Adresse auf den Formularen eintragen, die übrigens nur auf georgisch und französischen beschriftet sind. Gegen ihr schmuckes Büro mit all den Pflanzen und Heiligenbildchen kann jedes "moderne" Postamt bei uns im Westen zumachen. Übrigens kommt das Päckchen schon ein paar Tage später unversehrt zu Hause an, noch vor mir.
Postamt von Gori, angeblich von Deutschen erbaut
Im Postamt von Gori

Das Stalin Museum ist riesig. Ich finde, man sollte es unbedingt besucht haben, auch wenn es natürlich völlig unkritisch ist, es wurde ja noch zu Lebzeiten Stalins erbaut. Ich bekomme eine Privatführung auf englisch von einer Dame, die wie eine Kassette ihr Programm abspult und mir praktisch nicht in die Augen sieht. Sie sagt, es habe 4 Millionen politisch Verfolgte gegeben, von denen in den Lagern 800'000 wegen schlechter Haftbedingungen umkamen. Woher sie die Zahlen hat - keine Ahnung. Dann schaffe ich es doch, sie zu unterbrechen und frage, ob Stalin tatsächlich überrascht gewesen sei vom deutschen Angriff 1941. Ob überrascht oder nicht, er hätte jedenfalls erst einmal Zeit gewinnen müssen, was nach außen hin wie Zögern gewirkt habe. In das winzige Geburtshaus des Diktators kann man hineinsehen, seinen Reisewaggon betreten und sich an seinen Schreibtisch setzen (alle Fotos ab Stalin-Museum).
17 m hohe Stalin Statue kurz vor dem Umzug
Stalins Geburtshaus
Stalin als angeblich begabter junger Dichter
Zug von Deportierten
Größere Zerstörungen vom georgisch-südossetisch-russischen Krieg 2008 kann ich bei meinem kurzen Besuch zumindest im Zentrum nicht mehr erkennen. Insgesamt emfpinde ich Gori, auch dank dem Basar, als eine durchaus lebendige Stadt.

Kurz vor 18 h breche ich auf, ich bin heute erst gut 60 km gefahren. Einen extrem steilen Anstieg aus der Stadt heraus schaffe ich nur schiebend. Anschließend biege ich auf die Ost-West-Haupverbindungsstraße Georgiens, die übrigens Georgien militärisch gesehen sehr leicht "durchschneidbar" macht. Trotz leichtem Rückenwind ist es nicht besonders schön zu fahren, die LKW überholen sich recht unkontrolliert. Als Radfahrer bin ich ein Niemand. Dann regnet es auch noch. Bei Khasuri nehme ich die westliche Straße Richtung Kutaisi. Das Hochplateau auf 920 m erreiche ich gegen 22 h und 120 Tages KM. Wieder habe ich ein sehr ungutes Gefühl in der Dunkelheit, es nervt mich schon, dass ich nicht so lange fahren kann, wie ich eigentlich möchte. Als ich durch ein Dorf fahre, sehe ich vor mir drei Männer nebeneinander stehen. Einer von ihnen überquert die Straße. Als ich mich nähere, drehen sich die drei um und kommen von beiden Seiten direkt auf mich zu. Nicht schon wieder! Jetzt kann ich nicht mehr umkehren, auch hinter mir waren Leute, denen ich schon großräumig ausgewichen bin. Ich trete in die Pedale, mache einen plötzlichen Schlenker bis zur Straßenmitte, die Reifen des Autos hinter mir quietschen, einer der Männer schreit laut. Ich trete, trete, trete. Nochmal gutgegangen. Ich beschließe nun endgültig, nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr zu fahren. Es reicht. Aber wo soll ich übernachten? Tourismus gibt es hier nicht. Gegen halb 11 finde ich endlich einen kleinen Waldhang neben der Straße, in den ich hoffentlich unbeobachtet verschwinden kann. Die Bäume geben mir Schutz und Geborgenheit. Ihr dichtes Blätterdach hält sogar den kurzen nächtlichen Regen vollständig ab.