Dienstag, 25. Januar 2011

Mittwoch 2. Juni 2010: Gremi, Akhmeta (104 km)

Nach der etwas anstrengenden Nachtfahrt gestern wird es heute wieder ein uneingeschränkt positiver Tag. Es geht damit los, dass ich die Uhr um eine Stunde zurückdrehen darf. Die bukolische Gegend um Kvareli ist die Haupt-Weinanbaugegend Georgiens, an den meisten Häusern ranken sich malerisch die Reben, die zahlreichen Pferdefuhrwerke erinnern mich an Rumänien vor der EU-ropäisierung. In Kvareli kann ich nach 36 km endlich Geld wechseln und was zum Beißen kaufen, nachdem es den ganzen Tag nur Gartenschlauch-Wasser gab. Die Dame am Bankschalter kopiert sich meinen Pass incl. russischem Visum und schaut grimmig. Evtl. fragt sie sich, was ich damit will, ich kann ja eigentlich nicht von Georgien nach Russland reisen, aber darauf hinweisen tut sie mich nicht. Ich genieße den leichten Rückenwind und nehme dafür gerne die Hitze in Kauf, auf dem Rad ist es windstill.
Kvarelien I
Kvarelien II
Fernradler Johann aus München kommt schwerbepackt des Weges. Ich kann sein Fahrrad nicht einmal mit beiden Armen hochheben, er will aber auch bis in den Himalaya fahren. Er ist der einzige Fernradler, der mir überhaupt auf der ganzen Tour begegnet. Ich gebe ihm mit, er soll in Aserbaidschan Richtung Säki unbedingt den Umweg über die südwestliche Strecke nehmen, aber er will nicht hören und schreibt später "das Fahrrad und meine Bandscheiben sind auf der Strecke sicher um einige Jahre gealtert, denn der Belag bestand größtenteils aus grossen Flusskieseln und war alle paar hundert Meter überflutet. Die Ortschaften dazwischen werden trotzdem gelegentlich von überfüllten Schrottbussen angefahren. Die Geländetauglichkeit ist schon beeindruckend, aber ab und zu sitzen die Passagiere trotzdem bei 40 Grad mitten im Flussbett fest".
Begegnung mit Folgen
Fleischtheke
Malerisch thront die Festung Gremi auf ihrer Anhöhe, das können sie, die Georgier, Kirchen spektakulär plazieren. Im winzigen Kvemo steht noch eine überlebensgroße Stalin-Statue mitten im Dorfkern, er war ja Georgier. Der Kaukasus ist, wie ich dann noch öfter feststellen werde, nicht ent-stalinisiert.
Festung Gremi
Stalin bei Akhmeta
In Akhmeta, nach gut 100 Tageskilometern, will ich mich an einem Kiosk an der Abzweigung nach Tianeti noch mit Lebensmitteln eindecken, da die kommenden 30 km recht unbesiedelt aussehen. Mein Plan ist, von Akhmeta über Tianeti direkt nach Zhinvali zu fahren und somit gleich etwa 35 km nördlich von Tiflis/Tbilisi von Osten auf die georgische Heerstraße einzubiegen. Allerdings ist etwas verwirrend, dass alle meine Karten eine normale Straße anzeigen, außer der alten sowietischen Militärkarte, die einen kaum erkennbaren serpentinenartigen kleinen Weg zeigt. Mit "Google.earth" kurz einzoomen geht ja nicht, Georgien ist noch ein weißer Fleck, abgesehen davon, dass es in Georgien gar kein mobiles Internet gibt, nur Handynetz. Zur Sicherheit frage ich im Kiosk nach, ob das nebenan die richtige Abzweigung ist. Es ist etwa 19 h und ich will noch ein Stück fahren, der Tag war dank dem Rückenwind nicht sehr anstrengend.
 
Sofort trete ich eine Lawine los: es sei völlig ausgeschlossen, dass ich hier fahren kann, die Straße sei extrem schlecht, außerdem gäbe es Wölfe und es sei überhaupt sehr gefährlich. Bevor ich widersprechen kann, habe ich schon einen Telefonhörer in der Hand. Am anderen Ende der Leitung meldet sich eine georgische Deutschlehrerin, die mir in ziemlich fehlerfreiem Deutsch erklärt, ich soll mich nicht vom Fleck rühren, sie kommt vorbei, um mich abzuholen, ich bleibe die Nacht bei ihr. Der Gedanke, ob so etwas umgekehrt in Deutschland einem verschwitzten Georgier passieren würde, ist zu absurd, um ernsthaft gedacht zu werden. Ich bin am Grübeln, eigentlich wollte ich schon weiterfahren ... Aber dann schieben mich die Kiosk-Besitzer, eine Mutter mit ihrem Sohn, erstmal ins Hinterzimmer und geben mir ordentlich was zu essen. Alles ist so unglaublich lecker, nicht nur, weil ich sehr hungrig bin. Ständig holen sie mir aus dem Kiosk etwas zu trinken und nehmen natürlich kein Geld. DAS ist sie also, die unglaubliche georgische Gastfreundlichkeit. Der Sohn des Hauses spricht ein paar Brocken Englisch, die Mutter ein paar Brocken Deutsch, irgendwann kommt der Vater hinzu, mit dem ich ein paar Brocken Russisch reden kann. Es ist der Beginn eines wunderbaren Abends.

Mein Fahrrad wird in den Transporter gepackt und wir fahren doch, nach einer kleinen Ortsrundfahrt durch Akhmeta, zur Kioskfamilie nach Hause, so sehe ich zum erstenmal ein georgisches Wohnhaus von innen. Ich bin beeindruckt von der Geräumigkeit, vor allem der obere Stock, der recht unbenutzt aussieht, ist sehr edel eingerichtet mit Klavier, Lüster, Stuckdecke, bestickten Vorhängen. Vier große Kinderzimmer gibt es, von denen derzeit nur eines bewohnt ist. Es kommt die Cousine hinzu, die perfekt Französisch spricht, das hat sie studiert. Endlich haben wir eine gemeinsame Sprache. Aber auch dank "Google.translate" kann ich mich mit dem Sohn tippend am Computer notdürftig unterhalten, Internet mit Modem funktioniert einwandfrei. Ansonsten gibt es in der Küche fließendes Wasser. Im Garten gibt es ein Holz-Klohäuschen ohne Wasser. Die Mutter zeigt mir ihre Deutschbücher und kann noch ein paar Reime auf deutsch aufsagen. Ich bin beeindruckt vom Bildungsniveau hier auf dem Land, wenn man bedenkt, dass die Sprachen incl. Schrift komplett verschieden sind. Nach ihrer Meinung sind Deutsch oder Französisch gar nicht so extrem unterschiedlich vom Russischen, es sei auch "fast die gleiche Schrift". Naja, fast. Ich frage die Cousine, was es mit Thomas Mann auf sich hat, ob das Gerücht stimmt, dass man den hier kennt (Insider erinnern sich an die nette Geschichte von Chris am 18.4.2003). Klar sagt sie, der sei ja ins Georgische übersetzt. Dass ich über Abchasien nach Russland fahren will, ist ihrer Meinung nach sehr gefährlich, da Abchasien russisch besetztes Gebiet sei und eigentlich Kriegsgebiet - wie die offizielle Meinung des Westens.

Die Mutter und der Sohn sind wie ich ziemliche Nachtmenschen, um 2 h morgens wird noch ausgibig Proviant für mich vorbereitet, z.B. Tschurtschkellas, das sind wurstförmige Süßigkeiten aus Traubensirup und Walnüssen, für mich die ideale Radlernahrung. Eier werden gekocht, Brot eingepackt. Ich melde mich trotz der fortgeschrittenen Stunde dennoch an, mit dem Vater, der seit Stunden nebenan im Schlafzimmer liegt, um 5:30 h zur Morgenschicht in den Kiosk zu fahren, um das Tageslicht besser zu nutzen und Nachtfahrten zu vermeiden. In der Nacht regnet es noch ganz ordentlich, es war die goldrichtige Entscheidung, bei dieser wunderbaren Familie zu übernachten. Übrigens treffe ich einige Tage später nochmal den Sohn des Hauses in Tifils/Tbilisi, wo er seinen Bruder besucht.
Georgische Gastfreundschaft: die Tische biegen sich, "der Gast kommt von Gott"
Georgische Deutschbücher
Meine neuen Freunde
Oberer Stock eines georgischen Wohnhauses

Donnerstag 3. Juni 2010: Akhmeta, Tianeti, Zhinvali, Ananuri, Pasanauri (99 km)

Nach drei Stunden Schlaf wird es heute der anstrengendste Tag der Tour. Wenn die Leute von Akhmeta nach Tbilisi fahren, nehmen sie wegen des schlechten Straßenbelags nicht die knapp 90 km über Tianeti, sondern fahren einen weiten Bogen nach Osten aus, insgesamt etwa 200 km, macht 110 km Umweg. Ich will trotz aller Warnungen meiner Gastgeber über Tianeti fahren, eine ganze Tagesetappe wieder zurückzufahren kann ich mir einfach nicht vorstellen, notfalls will ich schieben. Der Belag ist tatsächlich grottenschlecht, es werden am Ende des Tages 55 km üble Schotterpiste auf ungefedertem Fahrrad gewesen sein. Dafür ist die Natur einfach grandios und ich habe sie fast für mich allein. Außerdem bin ich bei jedem Anstieg voller Hoffnung, für die georgische Heerstraße schon ein paar Höhenmeter gewonnen zu haben. Diese Hoffnung stirbt zum Glück erst ganz zuletzt bei der finalen Abfahrt hinunter nach Zhinvali. Bei der ersten, hart erkämpften Anhöhe gut 560 HM oberhalb Akhmeta, bin ich noch guter Dinge. Doch immer wieder geht es steil bergab, und hinter der Kurve kommt der nächste Anstieg, es geht die ganze Zeit 200 - 300 HM bergauf, bergab. Ich fahre mir ein kleines Loch ein, das ich gleich flicken kann. Ich bin froh, dass hier in dieser Abgeschiedenheit nichts Gravierenderes passiert.
Schotterpiste von Akhmeata bis Zhinavli
Blick auf den Kaukasus
Ich komme an einem Denkmal vorbei, an dem ich nur 1941, 1942 und 1945 lesen kann. Aber Deutsche waren meines Wissens während des Überfalls auf die Sowietunion nie in Georgien, nur in den abchasischen Bergen (Nachtrag: in dieses völlig entlegene Dorf namens "Pskhu" hinter dem Ritsa See fahre ich im kommenden Jahr).

Nach 31 km erreiche ich endlich Tianeti, einen sehr nett gelegenen Ort mit besonders reichem kulturellen Leben, wie ich von meiner Gastfamilie erfahren habe. Kurz hinter dem Ortsende geht die Schotterpiste wieder los, es geht hinauf auf 1380 m, teilweise muss ich tatsächlich schieben, gerade in der Mittagshitze eine schweißtreibende Angelegenheit. Irgendwann wird der Blick auf die ersten Häuser entlang der berühmten Georgischen Heerstraße frei, gleich westlich dahinter liegt das umkämpfte Südossetien. Eines der ganz vereinzelt entgegenkommenden Autos hält an, ein Mann steigt aus, fragt, wo ich hinwill und dass er mich hinbringen kann. Ich lehne dankend ab und will mich wieder auf's Rad schwingen. Er redet und redet, dass ich einsteigen soll. Ich habe es plötzlich eilig und zische los, er ruft hinterher. Zum erstenmal habe ich ein mulmiges Gefühl, die Straße ist total einsam und man könnte nirgendwohin ausweichen, rechts ist steiler Fels, link Abgrund.

Unten in Zhinvali - nicht zu verwechseln mit der südossetischen Hauptstadt Zchinwali - mündet mein Schotterweg in die tiptop geteerte georgische Heerstraße. Leider muss man hierzu eine Brücke auf etwa 800 m überqueren, unterhalb des großen Stausees. Gut, dass ich das nicht vorher gewusst habe. Gleich hinter der Einmündung stoße ich auf ein Restaurant, etwas, was ich seit Säki in Aserbaidschan nicht gesehen habe und auch bis Tbilisi nicht sehen werde. Ich bin ausgehungert, fertig. Die Pelmeni, die hier Chinkali heißen, werden trotz der eigentlich geschlossenen Küche von den sehr freundlichen Köchinnen extra für mich zubereitet und schmecken einfach fantastisch. Bei einem Bier kommt mir die Idee, den Schlauch meines Kabelschlosses als Pedalschlaufe zu verwenden, das ist genauso effizient wie der vorgestern verlorengegangene Pedal-Klick. Ohne Klickpedale wollte ich mich ja nicht unbedingt auf den Abstecher zum Kreuzpass auf etwas 2300 HM wagen. Aber jetzt gibt es keine Ausrede mehr, ich will den Kaukasus auf der Georgischen Heerstraße bezwingen, es wird mein erster richtiger Gebirgspass überhaupt werden.
Chinkali bzw. Pelmeni
Ersatz für verlorengegangenen Pedal-Klick
Der erste Höhepunkt auf der Heerstraße ist die spektakulär am hinteren Ende des großen Stausees gelegene Festung Ananuri, die nach einem ersten Auf- und Abstieg sichtbar wird. Der Stausee war natürlich zur Bauzeit der Anlage noch nicht vorhanden. Danach geht es relativ eben das Flußtal entlang, es sind ideale Fahrbedingungen. Dennoch finde ich, es liegt eine gewisse Aggression in der Luft. Sind es nur die Schäfer, die (betrunken?) mitten auf der Straße torkeln? Oder dass ich ab und zu komisch angeredet werde, ohne natürlich ein Wort zu verstehen? Oder dass viele Männer deutlich sichtbar bewaffnet im Militärlook herumlaufen? Oder dass gleich hinter dem Hügel Südossetien liegt, das sich de facto nicht mehr in der Gewalt Georgiens befindet? Oder dass ich keine Ahnung habe, wo ich in diesem engen Tal unbemerkt biwakieren soll? Aber dann stoße ich auf eine Geburtstagsfeier am Flußufer. Mit meiner kleinen Papier-Georgien-Fahne am Gepäckträger habe ich natürlich gleich alle Sympathien gewonnen.
Ananuri
Geburtstagsfeier an der georgischen Heerstraße
Ich bin fasziniert, wie die noch feiern können, vor allem scheint es keine Altersbarrieren zu geben. Hier mein kleiner Film-Mitschnitt:

Natürlich werden gleich Leute angerufen, die Englisch können, nur weiß ich nicht, was ich eigentlich mit denen reden soll. Egal. Dann werden mir die feinsten Speisen mitgegeben, ein Haufen Grillfleisch, außerdem füllen sie mir gegen meinen Protest zwei Liter Wein aus ihrem Kanister ab, der kommt aus Kvarelien und ist ihrer Meinung nach der beste Energielieferant für mich auf der Passstraße. Sie bieten mir an, mich mit dem Auto "hinzubringen", wohin auch immer ich muss, aber ich sage, ich nächtige gleich um die Ecke im Dorf Pasanauri. Irgendwann wird es dunkel, wir verabschieden uns, es bleibt eine unvergessene Begegnung. 
 
In Pasanauri hingegen kaufe ich in einem kleinen Laden etwas und bin sehr verwirrt von dem demonstrativen Desinteresse der Verkäufer, sie behandeln mich eine ganze Weile lang wie Luft. Von den auf der Straße herumstehenden Grüppchen werde ich angestarrt. In diesem Ort (und dann sehr lange nicht mehr) würde es Unterkünfte geben, aber ich kann mir einfach beim besten Willen nicht vorstellen, nachdem ich seit 6 Uhr morgens im Freien bin, jetzt einfach in ein Haus hineinzugehen. Also weiter. Gegen 23 h entdecke ich endlich eine kleine Brücke über einen seitlich einmündenden Gebirgsbach, dahinter kann ich neben einem unbeleuchteten Haus am Gartenzaun etwas abseits der Straße biwakieren.

In der Nacht schrecke ich hoch, habe ich einen Frosch im Schlafsack? In nullkommanix stehe ich senkrecht auf der Matte und streife zappelnd den Schlafsack ab. Ach so, es war nur ein Schaschlikstück, das sich beim Umpacken verirrt hat.

Freitag 4. Juni 2010: Gudauri, Kreuzpass, Kazbegi/Stepantsminda (86 km)

Beim Aufwachen kommt eine Dame mit Einkaufstüten direkt an meinem Schlafplatz vorbei und würdigt mich buchstäblich keines Blicks. Wahrscheinlich falle ich in die Kategorie "obdachloser Landstreicher". Dann geht die Sonne über den Bergen auf, eine spektakuläre Szenerie! Alle Bedenken und Ängstlichkeiten von gestern sind wie weggeblasen, die Natur ist atemberaubend. Mein Biwak befand sich auf 1175 m, die Straße geht noch relativ eben weiter. Am Wegrand kann man gestrickte Handarbeiten und die typischen Schaffellmützen kaufen.
Handarbeiten
Typische Schaffellmützen

Man trifft auf extrem windige Blechbuden, die Armut ist zum Teil sehr offensichtlich. Vereinzelt sind historische Wachtürme zu sehen. Bei Mleta, auf etwa 1520 m, wird der Fluss Aragvi überquert, nun folgt der richtige Anstieg. In laut meinem Reiseführer 18 Serpentinen geht es zunächst hinauf zum einzigen georgischen Wintersportort Gudauri. Als Berg-Anfänger (zumindest Berg-per-Fahrrad-Anfänger) muss ich sagen, es ist gar nicht so anstrengend wie befürchtet. Wegen der Höhe ist es nicht so heiß, und mein Gepäck ist ja superleicht. Zum Glück habe ich gestern gut gegessen, denn die Versorgungslage ist dürftig. Kurz vor Gudauri mache ich Pause an einem kleinen, sehr spärlich bestückten Kiosk ohne Kühlschrank und lerne Mariami kennen. Sie sprich perfekt Englisch, das kommt daher, dass sie von ihrem 16. bis 24. Lebensjahr Ski-Leistungssportlerin war und zu dieser Zeit in Innsbruck gelebt hat! Sie sei eine gute Freundin von Maria Riesch gewesen. Bei der Rückfahrt morgen wollen wir länger plaudern, momentan zieht es mich weiter. Gudauri scheint ein ganz ordentlicher Wintersportort zu sein, es gibt viele Hotels, einen Skiverleih, die Skilifte kommen aus Österreich. Angeblich kommen auch viele Heli-Skifahrer hierher, um ihrer in den Alpen verbotenen Leidenschaft zu frönen. Restaurants oder kleine Geschäfte sind aber im Sommer Fehlanzeige, wir sind hier nicht in Zermatt. Bei den letzten Bruchbuden hinter Gudauri nagt eine Kuh an einem Pappkarton, zwei Monsterhunde lungern am Wegrand. Ich fahre Schrittgeschwindigkeit, bis sie auf mich zulaufen, dann trete ich was geht in die Pedale und kann sie irgendwie abhängen. Nun ist der Weg endlich frei.
Kurz nach Gudauri: der Weg ist frei
Komplett unverbaute Berglandschaft

Noch grüble ich, wie weit mag wohl Alexandre Dumas vor 150 Jahren bei seinem kühnen Winterbefahrungs-Versuch des Kreuzpasses gekommen sein ... und schon bin ich auf der Passhöhe, der Kaukasus ist bezwungen! Hier auf 2395 m gibt es seit kurzem einen Soldatenfriedhof für deutsche Kriegsgefangene nach dem Zweiten Weltkrieg, die in Georgien viel beim Straßen- und Tunnelbau eingesetzt wurden (Buchtipp: "Georgisches Tagebuch, Fünf Jahre kriegsgefangen im Kaukasus" von Wend Graf von Kalnein).
Passhöhe 2395 m, der Kaukasus ist bezwungen!
Deutscher Kriegsgefangenen-Friedhof

Ich überlege, soll ich den Abstecher noch bis zur russischen Grenze ausdehnen? Es ist mir nicht klar, wie tief die liegt und ob es dort etwas zu sehen gibt. Aber wann hat mal schon einmal Gelegenheit, in ein gänzlich unbekanntes Gebiet zu fahren. Also, auf geht's! Kurz hinter der Passhöhe befindet sich gleich ein riesiges Loch in der Straße. Dann rollt eine Kolonne schwarz verspiegelter Limousinen heran, die Polizei dirigiert sie geschickt um das Loch herum, es ist mir ein Rätsel, wie hier niemand hineinfällt. In den Autos sitzen orthodoxe Mönche mit langen Bärten und einige schwarz verhüllte Frauen. Hier und da schiebt sich ein automatisches Fenster herunter, ein Mann küsst einen Mönch oder eine Frau küsst auf Knien die Hand eines Mönches. Die Mönche segnen einige Herumstehende, sogar mir wird von weitem segnend zugewinkt. Überall quillt ungebändigt das Schmelzwasser in Strömen aus den Hängen heraus.
Straße weggeschwemmt
Abenteuerliche Fahrverhältnisse
Eine riesige Schafherde bevölkert den Hang hinunter bis nach Kobi, den ersten Ort jenseits der Passhöhe. Dieser wirkt für mich extrem arm, beinah unbewohnbar. Danach ist die Straße wieder butterweich, die Bedingungen sind wieder perfekt. Verkehr gibt es praktisch keinen, da die Straße ja zur teilweise geschlossenen georgisch-russischen Grenze führt.
Tausende Schafe
Ab Kobi: wieder butterweich geteert
Ein großes Stalin-Monument steht am Wegrand. Im Kaukasus lebt seine Verehrung noch fort. Kurz vor Sioni gibt es wieder einen ordentlichen Kiosk, den ersten seit Gudauri, eigentlich Pasanauri. Zu meiner Überraschung können die Angestellten hier, mitten im Kaukasus, auf deutsch bis zehn zählen! Und schon bin ich in Kazbegi alias Stepantsminda, den letzten Ort vor der sagenumwobenen Darjal Schlucht. Es gibt im Ort Anflüge von Tourismus, einige kleine Hotels, Pensionen und Kioske, ein paar Backpacker streunen herum. Drei Stunden sind es hierher mit dem Minibus aus Tbilisi, die Fahrt stelle ich mir aber sehr holprig vor. Reise Know-How sagt, es ginge auf der Heerstraße von Tbilissi bis Kazbegi fast nur bergauf, das ist kompletter Unsinn, Kazbegi liegt immerhin mehr als 600 HM unter der Passhöhe. Und seit Stunden habe ich den Besitzer eines Hostals am Hals, den ich gestern irgendwie auf der Geburtstagsfeier am Handy gesprochen hatte. Er fängt mich immer wieder am Wegrand ab, um sicherzustellen, dass ich nicht woanders als in seiner Pension nächtige.
Dorf kurz vor Kazbegi/Stepantsminda
Stalin Memorial
Aber ich schieße gleich über Kazbegi hinaus, hinein in die Darjal Schlucht. Gleich nach der ersten Kurve bin ich erschlagen von der Wucht der Naturgewalten, ein gigantisches Fahrgefühl! Etwa 11,5 km und 440 HM geht es weiter hinab bis zur russischen Grenze. Kurz vor dieser begegnen mir zwei Brüder, sie haben Ferien und verbringen ein paar Tage hier beim Angeln - ihre Alternative zu den Videospielen einer westeuropäischen Jugend. Es geht vorbei an der beeindruckenden Festung Tamars. An der Grenze, gut 1000 HM unter der Passhöhe, bin ich überrascht, Ex-UdSSR-Bürger dürfen ganz normal drüber. Aus Interesse vor der Reaktion frage ich, ob ich auch kurz dürfe, aber die Antwort ist natürlich нет - nein. Die Grenzbeamten sind sehr freundlich und fragen, ob sie mir irgendwie helfen können, sie meinen ja, für mich sei gerade eine Katastrophe hereingebrochen, diese Grenze zu umfahren kostet Wochen. Aber ich sage ganz lässig "schon OK" und mache mich wieder auf den Rückweg Richtung Kazbegi. Die georgische Heerstraße war ja von Anfang an als Abstecher geplant, Ziel ist Tbilissi morgen oder übermorgen.
Hinein in die Darjal Schlucht!
Kurz vor der georgisch-russischen Grenze
Der mächtige über 5000 m hohe Kasbek lässt sich immer wieder durch die Felsen blicken. Ein Gewitter droht aufzuziehen. Auf der Umgehung eines Tunnels finde ich den perfekten Biwakplatz unter einer überhängenden Felswand, hier bin ich vor Regen sicher, außerdem sieht mich keiner, und doch bin ich nicht weit von der Straße entfernt. I-Tüpfelchen ist ein Mini-Wasserfall am Tunneleingang, was will der erschöpfte Radfahrer mehr? Das Gewitter kommt doch nicht, es wird ein wunderbarer, stimmungsvoller Abend, hier auf meinem spektakulären Balkon auf 1660 m.
Für mich dicht: georgische Grenze nach Russland
Traumbiwakplatz

Samstag 5. Juni 2010: Kazbegi/Stepantsminda, Kreuzpass, Gudauri, Pasanauri (96 km)

In aller Frühe geht es zurück nach Kazbegi/Stepantsminda. In dem Hotel am Hauptplatz gibt man mir kein Frühstück, dazu hätte ich hier übernachten müssen. Tja, dafür ist es jetzt zu spät. Zum Glück lerne ich die Besitzerin des "Nunu Masuradse" kennen und bekomme ein paar Schritte oberhalb des Hauptplatzes ein im wahrsten Sinne spektakuläres Frühstück: vom Balkon aus hat man, während von Nunu der Gaumen verwöhnt wird, einen unvergleichlichen Blick auf die "Zminda Sameba" Kirche vor dem Kasbek, einem der Postkartenmotive Georgiens und Titelbild der meisten Georgien Reiseführer. 
Zminda Sameba Kirche vor dem Frühstück
... und nach dem Frühstück
Kirchen an wunderbare Orte plazieren, das können sie, wie gesagt, die Georgier! Zminda Sameba liegt knapp 400 m über Kazbegi, in einer knappen Stunde bin ich zu Fuß oben. Halbwilde Schaf- und Pferdeherden grasen auf den steilen Hängen. Eine Ewigkeit möchte ich hier, oberhalb aller Sorgen, sitzenbleiben. Dann kommt ein Schwung Mönche in Jeeps angerollt, womöglich die von gestern? Eine längere Messe wird abgehalten, mit Weihrauch wird nicht gespart.
Kasbek mit Zminda Sameba Glockenturm
Kasbek
Wildpferde
Traditionelles Dorf
Wieder im Dorf unten wartet schon die nächste Sehenswürdigkeit: das Alexander-Qasbegi-Museum mit vielen ethnografischen Exponaten aus dem Kaukasus. Der hochgebildete Schriftsteller aus der zweiten Hälfte des 19. JH hatte sich nach seinem Studium für ein einfaches Leben als Schafhirte entschieden.
Im Qasbegi Museum
Wodka Produktion
Nach einem zweiten Frühstück bei Nunu trete ich kurz vor 13 h die Rückfahrt Richtung Kreuzpass an. Tbilissi ist allerdings noch zu weit entfernt, um es heute noch zu erreichen.
Traumradeln vor dem Kreuzpass
Wegbegleiter
Starker Gegenwind und Wolken empfangen mich auf der Passhöhe kurz vor 16 h. Noch denke ich nichts böses. Nahe der großen Aussichtsplatform hält eine französische Familie in ihrem VW Bus an und warnt mich vor einigen Hunden, die gerade einen anderen Fahrradfahrer belästigt hätten. Die Eltern haben ihre beiden Kleinen für ein Jahr aus der Grundschule genommen und kurven hier durch Armenien und Georgien. Den Abstecher nach Kazbegi werden sie leider nicht schaffen, weil sie nirgends auftanken konnten. Da hatte ich heute bei Nunu schon mehr Glück. Ab Gudauri ist die Straße wieder top geteert. Ich klopfe noch bei Ex Skirennfahrerin Mariami vorbei, die mich ganz lieb mit Tee und Essen versorgt.
Auf dem Kreuzpass
Ex Skiprofi Mariami
Als endlich die richtige Abfahrt beginnt, ziehen sehr dunkle Wolken auf. Es gibt nun gar keinen Verkehr mehr, die Ruhe vor dem Gewitter ist fast unheimlich. Die angeblich 18 Serpentinen schaffe ich noch im Trockenen, aber dann hagelt es sehr heftig, vor einer kleinen Kirche finde ich mit viel Glück einen winzigen überdachten Unterstand. Nun ist die schöne Abfahrt verhagelt, von den Straßenverhältnissen her wäre die Strecke eigentlich traumhaft gewesen. Dann klart es wieder auf. Wie beim Wetter beginnt nun ein Wechselbad von Ereignissen, die ich so schnell nicht vergessen werde.

Zunächst begegne ich einer herzigen Schulklasse. Als ich kurz anhalte, bin ich sofort umzingelt, die Mädchen sind total aus dem Häuschen und küssen mich immer wieder auf die Wangen. Ein drahtiger Junge schnappt sich mein Fahrrad, schon ist er die Straße hinaufgefahren, umgedreht und saust mit einem Karacho wieder abwärts, dass es mir den Atem verschlägt. Er sei erfolgreicher Kickboxer, erfahre ich. Unzählige Fotos müssen mit den Handys gemacht werden, jeder und jede darf sich auf meinem Rad versuchen, von den Mädchen kann es aber keine alleine lenken. Dann fragen sie mich, ob ich gerne Chatschapuri esse, ein Nationalgericht. Prinzipiell ja, sage ich, woraufhin sie jubelnd in die Luft springen und mich hinüber zu ihrem Picknick- und Grillplatz schleppen. Eigentlich hupt ihr Bus schon die ganze Zeit zum Weiterfahren, schließlich packt mir die Lehrerin noch eine riesige Tüte voller georgischer Spezialitäten ein und weg sind sie.
Extrem windige Überdachungen
Jeder darf mal

 Ich stehe noch etwas verloren da, gehe zurück zum Fahrrad. Dann kommt einer der jungen Männer, die auch dort gegrillt und Wodka getrunken haben und fragt einfach so, ob ich mit ihnen mit nach Hause komme zum "Wodka weitertrinken". Normalerweise habe ich ja nichts gegen "was mit Einheimischen trinken", aber diese Typen sehen gruselig aus. Ich habe es eilig, sage ich, und zische los. Sie rufen mir etwas hinterher. Nun macht sich wie vorgestern ein mulmiges Gefühl breit, man kann in diesem Tal nirgendwohin ausweichen. Eigentlich sollte ich vernunftsmäßig unbedingt in Pasanauri übernachten. Das Wetter ist aber dummerweise gerade in Pasanauri wieder viel besser geworden, es ist noch hell, die Straße geht leicht bergab, ich bin essensmäßig bis Anschlag aufgetankt, so bin ich leichtsinnig genug, durchzurollen und auf spätere Unterkünfte zu hoffen. Aber gleich bricht erneut ein sehr heftiges Gewitter herein, hinter dem Hügel blitzt es fast pausenlos.

Dann leistet mir ein Schäferhund ein Weilchen Gesellschaft, so ein freundliches Exemplar habe ich beim Radfahren noch nie erlebt. Wenn es nur mehr von dieser Sorte gäbe:


Es wird immer dunkler. Ich begegne einem älteren, recht arm aussehenden Schäfer und biete ihm etwas von meinem Proviant an, die Lehrerin hat es viel zu gut mit mir gemeint. Er lehnt dankend ab, er habe genügend zu essen. Dann fragt er, wo mein Ehemann sei und fügt an, man gehe hier als Frau nicht allein auf die Straße. Mit Ehemann - ja, allein - nein. Er wiederholt mit erhobenem Zeigefinger und Kopftschütteln: "allein - neinneinnein". Dann sehe ich aber doch eine Frau, und zwar eine stöckelbeschuhte Blondine, die von einem Mercedes ausgeladen und von einem am Straßenrand wartenden Mann entgegengenommen wird. Sie gehen zu seiner windigen "Behausung".

Dann fahre ich einen kleinen Anstieg hinauf, zwei Typen gehen hintereinander auf der Straße. Auf einmal dreht sich der Eine um und packt mich mit beiden Händen fest an der Hüfte. Ich höre mich um Hilfe schreien. Irgenwie kann ich mich losreißen. Meine Güte, der Andere ist noch vor mir, die Straße ist eng, er könnte mich ohne weiteres vom Rad pflücken. Ein tonnenschwerer Stein fällt mir vom Herzen, als er das nicht macht und mich durchlässt. Es ist nun stockfinster. Wenn es nur irgendeine Unterkunft gäbe, aber: nichts, nirgends. Der Wald neben der Straße ist steil und felsig, dort kann man sich nicht verstecken. Außerdem streunen überall einzelne Männer herum. Wer weiß, ob die nicht auch im Wald schlafen. Endlich kommt ein Kiosk. Durch ein kleines vergittertes Guckloch frage ich den auf dem Sofa liegenden Besitzer, wo es eine Unterkunft gibt, Hotel, Gostinitsa, wo? Er meint, ich kann bei ihm pennen, ich soll schon mal raufgehen, er kommt gleich nach. Panik! Schnell weg, er läuft aus dem Kiosk heraus, zum Glück bin ich schneller, er schreit mir etwas hinterher. Noch nie hatte ich auf einer Radtour solche Angst wie jetzt gerade. Meinen die, ich bin Freiwild?

Endlich treffe ich kurz vor Ananuri auf einen weiteren Kiosk, in dem ein älteres Ehepaar hinter der Theke steht. Endlich Schutz, und wenn ich hier auf dem Boden sitzend übernachte! Ich versuche zu erzählen, was passiert ist und dass ich unbedingt einen Unterstand brauche. Sie wissen auch nichts, aber dann kommt ein Engel! Ein Kunde holt seine Frau aus dem Auto herein, die Englisch spricht. Sie sagt direkt, ohne es mit ihrem Mann abzusprechen, dass ich zu ihnen mit nach Hause komme, es ist übrigens das Haus seiner Eltern. Ich kann es nicht glauben, bin total aufgelöst. Sie sagt, sie sei gerade Mutter geworden und es sei das natürlichste von der Welt, dass sie auch für mich sorgt. Immerhin sei sie ein Mensch. Wie recht sie hat. Ich werde dieser Frau ewig dankbar sein. Sie hat ein paar Jahre in Griechenland gearbeitet. Wir stellen fest, dass wir genau gleich alt sind, ihr Ehemann ist deutlich jünger. Es scheint die Beiden nicht zu stören, dass mein vom Regen nasses Rad ihr neues Auto mit einer braunen Brühe volltropft. Erzähle man das einem Deutschen! Zu Hause bewundern wir gleich das Baby, daneben schlafen die Großeltern. Wir essen zu abend, trinken ein Glas Bier, unterhalten uns auf Englisch. Sie - schon ein bisschen in der Welt herumgekommen und ganz sicher keine Mimose - sagt, sie würde hier niemals bei Dunkelheit allein herumspazieren. Das sei eine klare Provokation, wir hätten hier eine "Macho-Gesellschaft", jede Frau hält sich an die Regeln. Was sie mir auch auf meine Anfrage hin erzhält, ist, dass sie 2008 während des georgisch-südossetischen Krieges sehr viel Angst gehabt hätten. Überall auf der georgischen Heerstraße seien Panzer gewesen, und sie hätten nicht gewusst, was eigentlich los sei.

Ich bekomme ein sehr stilvolles Gästezimmer im oberen Stock mit Lüster und Stuckdecke. Das Haus ist überhaupt sehr ähnlich zu dem meiner georgischen Freunde in Akhmeta, ebenfalls eine wundervolle, von Weinreben umrankte Villa mit geräumigem Obergeschoss. Gewohnt wird unten. Und dann kommt zum Abschluss des Abends noch eine schaurige Szene, über die ich nicht weiß, ob ich lachen oder weinen soll: Mitten in der Nacht steht der Ehemann in meinem Zimmer, aber zum Glück haut er von selber wieder ab, bevor ich losschreie. Gibt's ja nicht!

Sonntag 6. Juni 2010: Ananuri, Mzcheta, Tbilisi, Dzgevi (119 km)

Bei der ersten Morgendämmerung, als die ersten Leute im Haus aufgestanden sind, verdrücke ich mich so schnell es geht. Leider kann ich mich nicht von meiner Retterin selber verabschieden, sie schläft noch. Kurz vor Ananuri merke ich, meine Regenjacke ist noch im Haus! Puh, eigentlich wollte ich diesen Mann nicht mehr so bald treffen. Aber er ist ganz kooperativ, reicht mir die Jacke herüber, und weg bin ich. Definitiv wach werde ich beim steilen Anstieg hinter der auch beim zweiten Mal umwerfenden Festung Ananuri. Dann geht es locker hinunter zur Kirchenmetropole Mzcheta. Auffällig viele Polizisten sieht man, hinter dem Hügel befindet sich das de facto von Georgien unabhängige Südossetien. Außerdem fallen mir die Straßenschlider auf: sie zeigen neben Tbilisi meist nur Sochum"i" an (mit georgisch/englischem "i" am Ende geschrieben), die Hauptstadt Abchasiens, des anderen de facto von Georgien unabhängig gewordenen Landes(teils).
Ananuri
Untere Georgische Heerstraße
Ich erinnere mich, meine vor-vorgestrigen Gastgeber hatten von der Anlage Mzcheta ein riesiges Modell im Haus stehen. Die Stadt ist das spirituell-geistliche Herz Georgiens, dessen Bedeutung man vielleicht als Ausländer gar nicht begreifen kann. Eine der zahlreichen Legenden besagt, dass sich das Kreuzigungsgewand Christi unter einer der Kirchen befinde (hier eine 15minütige Dokumentation über die religiöse Bedeutung von Mzcheta). Pilgerschwärme von Jung und Alt ziehen durch die riesigen Anlagen.
Kirchenmetropole Mzcheta
Mzcheta
Am Stadtrand von Tbilissi komme ich mit einem freundlichen, älteren Tankstellenwart ins Gespräch. Wir sitzen auf der Bank, er erzählt mir von Abchasien, seiner Heimat. Das Leben geht weiter, sagt er, jetzt sei er eben hier. Ich höre stumm zu, was soll man sagen? Man sympathisiert mit den wehrhaften Abchasen und ist sprachlos gegenüber dem Schicksal der georgischen Flüchtlinge, die nun immerhin über 5 % der Bevölkerung in Georgien ausmachen und im Westen des Landes recht präsent sind.

Nach 80 Tages KM stehe ich schon mitten in Tbilissi auf dem mächtigen Rustawali Platz! Die Bandbreite meiner Erwartungen deckt alles ab zwischen kultureller Hochburg, in der "der Gast von Gott kommt" und "bloß nicht unbewaffnet auf die Straße gehen". Johann hatte mir vorgestern von seinem Mitbewohner erzählt, der je nach Tageszeit ein kleines "Einkaufs-Messer", oder ein größeres "Ausgeh-Messer" stets zur Selbstverteidigung mit sich trug. Bei einem Bier lerne ich den deutschen Opernsänger Klaus R. kennen, der hier einen Liederabend gibt. Er sei einmal bei Eduard Schewardnadse zu Gast gewesen. Dieser wohne oberhalb der Stadt und man brauche schätzungsweise einen Tag, um sein riesiges Anwesen zu Fuß zu umrunden. Und dann steht schon Giorgi aus Akhmeta vor mir, wir ein Wunder, dass er am Handy erstens verstanden hat, wo ich bin und zweitens 5 Minuten später schon da ist. Dann kommen ein paar fesche georgische Studentinnen, die allesamt perfekt englisch sprechen, und holen den Opernsänger zu einem Ausflug ab. Ich klinke mich aber aus, denn ich möchte heute Abend Tbilissi schon verlassen. Abchasien ruft, ich weiß noch nicht einmal, ob es überhaupt mit der Einreise klappt. Als wichtigstes brauche ich jetzt erst einmal ein Internet Café, um zu sehen, ob die Grenzübertritts-Erlaubnis vom abchasischen Außenministerium schon da ist. Ich hatte ihnen vor Abflug noch geschrieben, dass ich sie dringend brauche, ab Tbilisi werde ich kaum eine Möglichkeit haben, sie abzurufen und auszudrucken.
Wiedersehen mit Giorgi
Die Studentinnen und der Opernsänger
Juhu, sie ist da! Der Traum von Abchasien nimmt konkrete Formen an, und das mitten in Georgien. Ich kurve noch ein bisschen durch die großen Prachstraßen und das einzigartige Bäderviertel, wo die Schwefelquellen unter den typischen Kuppeln bis zu 47 Grad heiß sind. Märchenhafte Fassaden, verwunschene Hinterhöfe und viele kunstvollen Balkone fallen mir ins Auge. Es wird viel gebaut und renoviert, was auch not tut. Nur die neue geschwungene Fußgängerbrücke über die Kura passt meiner Meinung nach nicht besonders in das traditionelle Stadtbild und ist überdies komplett überflüssig. Und wer hat die bitte geplant? Man muss das Fahrrad eine lange Treppe hinauftragen.
Bäderviertel Tbilisi
Ein Hauch von Samarkand
Tbilisi Stadtzentrum
... und wenige Meter daneben
Es gibt noch viel zu tun
Allgegenwärtig: Fünfkreuzflagge
Beim Verlassen der Stadt zieht schon die Abenddämmerung auf. An einer Tankstelle fahre ich so schnell es geht an einigen düsteren Gestalten vorbei. In dem Moment fällt mein batteriebetriebenes Vorderlich ab, das schon die ganze Zeit gewackelt hat. Ich will aber auf keinen Fall in Reichweite dieser mich anstarrenden Leute stehenbleiben und es aufheben, so habe ich ab jetzt nur noch Stirnlampe und Rücklicht.

Die Strecke zurück Richtung Mzcheta geht teilweise durch stockfinsteren Wald, ich kann die Straße nur erahnen, es gibt keinerlei Straßenbeleuchtung. Vor Mzcheta zweigt links die Nebenstraße Richtung Gori über Dzgevi ab, ich hatte die Abzweigung schon heute Mittag bei der Herfahrt lokalisiert, jetzt in der Finsternins hätte ich sie wohl nicht gefunden. Hier hoffe ich endlich auf ein ruhiges Waldstück, denn ich habe schon wieder Angst, gerade, wenn ich durch kleine, unbeleuchtete Ortschaften fahre. Endlich finde ich auf einer Eisenbahnunterführung neben den Gleisen im dornigen Gestrüpp ein etwas geschütztes Plätzchen in Gesellschaft vieler Schnecken. Nicht ideal, aber auf keinen Fall möchte ich hier noch weiterfahren. In der Nacht fängt es auch noch zu regnen an, ich schlage mir die halbe Plane drüber, also die Hälfte, auf der ich nicht liege. Mehrmals fährt nebenan ein Zug vorbei. Habe schon bessere Nächte erlebt. Aber auch schlechtere.